LESEPROBE Am Rande

Mein S-Bahn-Freund war ein Kind, als ich ihn kennen lernte, vielleicht 12 oder höchstens 13 Jahre alt. Mit leiser Stimme bat er um eine Spende, aber ohne die eingeübten Reden der anderen S-Bahn-Bettler.
Monate oder Jahre vergingen. Der Junge kam in den Stimmbruch. Bald darauf gab ich ihm einmal den Flyer der Jenny de La Torre Stiftung.
Einige Zeit später bot er in der S-Bahn die Obdachlosenzeitung an.
Einmal, als ich mit meinen Volkstanzfreundinnen im Bahnhof Südende den Bahnsteig entlang ging, sah ich den Jungen dort stehen. Er sah mich und lächelte mich etwas verschämt an.
Als ich ihm wieder begegnete, war er stark erkältet und sein Gesicht voller Pickel.
Eines Tages gab ich ihm zum zweiten Mal den Flyer der Jenny de La Torre Stiftung. Er steckte ihn schweigend und wie nebenbei im Weitergehen in die Hosentasche.
Beim nächsten Wiedersehen war er groß und dünn geworden und hatte dicke Pickel im Gesicht.
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Nach vielen Wochen höre ich wieder seine leise Stimme. Ich sehe ihn an, wie immer. Er bleibt stehen. Mit zwei gekrümmten Fingern neben seinem Gesicht winkt er mir zu, lächelt schelmisch und fragt:
„Hatten Sie ein schönes Wochenende?“ Es ist ein Mittwoch.
„Ja, danke“, sage ich.
„Ich habe Sie nicht verstanden“, sagt er laut. Die Umsitzenden drehen ihre Köpfe zu uns hin.
„Danke“, rufe ich, „danke!“
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Das plötzliche Wiedersehen erschreckt mich so, daß ich ihn entsetzt anstarre. Sein Gesicht ist abstoßend entstellt, die ganze untere Gesichtshälfte voller aufgekratzter, blutender Pickel. Mit einem Papiertaschentuch wischt er sich im Gehen laufend das Blut von einem Ohrläppchen. Er sieht mich von weitem, wie immer, geht vorbei und murmelt etwas vom Telefonieren. Ich denke, er bezieht sich auf unsere ausgetauschten Telefonnummern, und wundere mich auch, dass er so vorbeiläuft. Er kehrt zurück, spricht aber nicht mich an, sondern die neben mir sitzende, sehr große und sehr junge Frau, deren Gesicht mit riesengroßen Sommersprossen übersät ist, die so rund und glatt sind, als seien sie aufgemalt.
„Auch lange nicht mehr gesehen“, sagt er zu ihr, und ob sie ihr Handy laut stellen könne für ihn. Dann nennt er ihr eine Nummer, die sie eintippt, spricht leise kurz mit jemandem, und schließt mit „Bis gleich“. Zu mir sagt er, wir hätten uns lange nicht gesehen, und fragt, wohin ich heute fahre. Dann frage ich, ob er bei Jenny de La Torre gewesen sei. Ja, sagt er, und er habe eine Salbe für die Haut bekommen, und die sei schon besser. Dabei duzt er mich weiter. Ich fühle mich gekränkt und fühle auch, dass er einfach alle Leute benutzt, so wie wohl auch schon öfter die junge Frau mit dem Telefon. Wo hat er das Handy, dessen Nummer er mir gegeben hat? Am Bahnhof Südkreuz steigt er eilig aus, wohl wegen der telefonischen Verabredung. Peinlich muss ich mir eingestehen, dass ich eifersüchtig bin, nicht benötigt zu werden. Er braucht dringend psychotherapeutische Hilfe, und ich kann sie ihm weder geben noch vermitteln. Nicht nur hat er sich selbst beschädigt, er hat auch dreckige Hände, Arme und Fingernägel. Ich würde ihn gerne auf seinen Stolz ansprechen wollen, auf seinen Ehrgeiz. Aber zuvor braucht er Zuwendung. Von wem?
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Ein Freitag im Juni. Gegen 19 oder 19.30 Uhr bin ich auf dem Nachhauseweg in der SBahn und sehe ihn wieder. Er bleibt bei mir stehen, erzählt mir, dass er grade vom Arzt kommt, eine Überweisung in ein Krankenhaus hat, aber keinen Transport bekommen hat.
„Kannst du mir was dazugeben?“
„Wir duzen uns nicht.“
Ein Mann um die 40 fragt mich, ob ich den jungen Mann kenne. Ja, sage ich, ich kannte ihn schon als Kind. Er habe den Eindruck gehabt, daß ich belästigt würde, fügt er hinzu. Ich bin alt genug, um mir selbst zu helfen, sage ich, wobei ich denke, vielleicht wirke ich ja wegen meines Alters hilfsbedürftig.
„Neulich habe ich einen Mann gerettet, der belästigt wurde“, erzähle ich nun die Geschichte, die ich am Tag zuvor in der Ringbahn erlebt habe. Beim Erzählen habe ich ein aufmerksames Publikum an den beiden jüngeren Männern. Danny geht noch nicht. „Was ist denn das für ein Krankenhaus?“ frage ich.
„Ein psychiatrisches.“
„Ich meine, wo ist denn das Krankenhaus?“ Ich denke daran, dass er wahrscheinlich keine Monatskarte hat. Aber dann nennt er eine Stadt in Brandenburg.
„Wieso da?“
„Es gab keinen anderen freien Platz. Der Zug fährt in einer Viertelstunde.“
„Die Züge fahren sicher jede Stunde oder jede zweite Stunde.“
„Dann ist der Platz weg.“
Damit sind wir schon in Lichterfelde Ost ausgestiegen.
Ich rate ihm, am nächsten Morgen im Sozialamt um das Fahrgeld zu bitten und den Arzt anzurufen und ihm zu sagen, dass er das Fahrgeld nicht habe. Im Weggehen sage ich noch: „Ich bin schon zu oft belogen worden.“
Dann sehe ich noch, wie Danny sich auf den Boden des Bahnsteigs setzt und eines der Regenabfluss-Elemente leicht anhebt.
Unterwegs fällt mir ein, dass der nächste Tag Sonnabend ist und damit weder ein Arzt noch ein Sozialarbeiter zu erreichen. Und dass Danny nun eine große Leere vor sich haben würde. Und dass ich, sobald ich wieder angefangen habe, ihm Geld zu geben, wieder angebettelt worden bin.
Ich bin ziemlich sicher, aber nicht ganz, dass er mir diese Geschichte aufgetischt hat, um an eine größere Summe Geld zu kommen. Was für ein Ausmaß an Fantasie gehört dazu! Und dann dämmert mir, dass ich das Strickmuster schon kenne, schon von zwei früheren Abenden her: Die Unterkunft schließt gleich, ich brauche das Geld gleich.