LESEPROBE Die Zaunkönigin – Ostpreußen entwachsen

„Zieh das Kissen ein bisschen weiter nach rechts. Das ist besser. Nun steck es noch tiefer ins Kreuz. So ist es gut, danke, Anneken. Keiner macht das so gut wie du. Die Schwestern wechseln so oft. Und sie haben so wenig Zeit.“
„Ich komm ja morgen wieder, Susu. Dann fahre ich dich wieder spazieren, wenn du möchtest.“
Sie ist eine gute Nichte, meine Anneken. Morgen kommt sie wieder.
Die Tage werden mir hier so lang, ich kann ja nichts mehr tun. Wenn das Wetter gut ist, sitzen wir auf dem Balkon. Dann genieße ich ein bisschen die Sonne. Manchmal kann ich mit Annekens Hilfe mühsam aufstehen, dann halte ich mich an der Balkonbrüstung fest und sehe über den Garten des Pflegeheims hinweg in meinen alten Garten nebenan.

„Bist du wach, Susu? Ich geh dann jetzt.“ „Ja. Meine Gedanken sind nur mit mir spazieren gelaufen. Tschüs, Anneken.“
„Mach’s gut, Susu.“
Wenn ich Anneken nicht hätte! Von unserem einundzwanzigsten Jahrhundert, das wir damals so neugierig erwarteten, sind schon fast fünfundzwanzig Jahre herum; wir haben geforscht und experimentiert und sind uns sehr klug vorgekommen – aber was wissen wir schon von dem, was wirklich wichtig ist für den Menschen? Was wissen sie zum Beispiel von der Einsamkeit einer alten Frau, die ihren Gedanken nachhängt? Wenn es Anneken nicht gäbe, wäre da nichts außer meinen Gedanken, die spazieren laufen, rennen, sich überstürzen, mir davonlaufen wollen. Greifenmöchte ich sie, sie festhalten. Wenn ich es nur schaffe, bevor es zu spät ist! Wie Filmszenen steigen die Erinnerungsbilder vor mir auf. Damals ist wie jetzt. Ich bin wieder ein kleines Kind, den Erwachsenen ausgeliefert. …..

….. Ich steige im großen Esszimmer auf einen Stuhl. Niemand sieht mich. Oben auf der Anrichte liegen die Streichhölzer. Ich greife mir die Schachtel, steige vom Stuhl, öffne sie, nehme ein Hölzchen heraus, streiche mit dem roten Holzköpfchen an der rauen Außenkante der Schachtel entlang, einmal, zweimal, ich freue mich an der Flamme. Mutti kommt zur Tür herein. Schnell blase ich die Flamme aus. Ich habe das Streichholz noch in der Hand. Der Stuhl steht noch vor der Anrichte.
„Hast du das Streichholz angezündet?“
Die Frage klingt drohend. Wie überflüssig sie ist, merke ich nicht. Ich bin ja erst fünf
Jahre alt.
„Nein“, lüge ich angstvoll.
Mutti versetzt mir eine Ohrfeige. Meine Wange glüht, mein Ohr brennt.
„Das ist dafür, dass du gelogen hast“, sagt Mutti, „nicht für das Streichholzanzünden.“
Lügen wird bestraft, zündeln nicht. Vielleicht nicht. Ich werde ein braves Kind sein, ein anständiges Mädchen. Ich werde auf der Hut sein.

„Ich kann nicht so schnell!“ rufe ich. Ich sitze hoch oben auf den Schultern des Kindermädchens. Sie läuft mit mir über den riesengroßen Hof, sie lacht mich aus.
Von dort oben überblicke ich alles: In der Mitte steht der Sandkasten, nicht weit davon die Pumpe mit ihrem schweren, langen Schwengel. Um mich herum, den Hof im Viereck begrenzend, sehe ich mein Zuhause liegen – das lang gestreckte Wohnhaus, daneben die Hofeinfahrt, an seiner anderen Seite das Waschhaus, die Garage, den Zaun zum Obstgarten, die Apfelbäume dahinter, dann den Hühnerstall, den Kuhstall; neben dem Ausgang zum Feldweg erkenne ich, während das Mädchen mit mir wild im Kreise läuft, den Schweinestall, den Pferdestall, die Scheune, die Wagenremise; bei dem Ausgang zum Kartoffelfeld beginnt das kleine Haus mit der Kutscherwohnung und dem Forstbüro, dann kommt der Zwinger mit den vier Jagdhunden, hinter dem schon der Zaun zum Gemüsegarten beginnt.
Meine kleine, begrenzte, sichere Welt sehe ich, deren Begrenztheit mir nicht bewusst ist, deren Sicherheit eine vorübergehende ist. Ich werde getragen, im Kreise gedreht, ich werde schneller bewegt, als ich selber laufen kann. Nicht so schnell! …..

….. „Ich kann nicht so schnell!“
„Aber Susu, du musst doch gar nichts tun.“
„Anneken?“
Ja. Annekens Stimme.
Rumpel-pumpel rattert mein Rollstuhl den Gang entlang.
Ausgeliefert bin ich und doch aufgehoben. Wie ein Kind. Wie ein Küken unter der wärmenden Glucke, nein, nicht ganz, eher wie ein mutterloses Küken im Pappkarton auf dem warmen Herd. …..
….. Ich stehe am Herdrand inmitten unserer geräumigen Küche in Ostpreußen. Durch die breite Ofentür wird der Herd mit Holz und Kohle gefüttert. Ich kann die Glut und das Feuer sehen, wenn die Tür zum Nachlegen geöffnet wird. Ich bin auch schon groß genug, um auf die schwarze Herdplatte zu schauen. Direkt über der Feuerstelle liegen die Kochplatten mit den konzentrischen Eisenringen. Zum Ankochen nimmt die Köchin mit einem langen Haken die mittlere Platte heraus, manchmal auch die inneren Ringe, je nach Topfgröße. Die Flammen lecken an den Töpfen, die unten alle schwarz vom Ruß sind. Zum Weiterkochen werden die Feuerlöcher wieder ganz oder teilweise geschlossen. Die große metallene Herdplatte leitet die Wärme weiter bis zum Rand, wo Speisen warm gehalten werden und wo am äußersten Rand die Milch zum Säuern hingestellt wird, damit wir immer Quark und Dickmilch haben. Dort steht eines Tages auch ein flacher Karton, zugedeckt mit einem durchlöcherten Pappdeckel. Ein schwaches Piepsen tönt daraus. Wir Kinder dürfen hineinsehen: Zehn, zwölf winzige flaumige Küken sitzen und stehen darin, aneinander gekuschelt. Die Köchin schneidet hart gekochte Eier in sehr kleine Würfel, schneidet Schnittlauch in feine Stücke, streut beides in den Karton, die Winzlinge picken eifrig, wir Kinder freuen uns.

Weich und flaumig wie Küken sind die Weidenkätzchen. Die Weidenbäume stehen nicht weit vom Haus auf der Kuhweide, wo im Sommer die vielen Champignons wachsen. Wir stecken uns die Kätzchen in die Nasenlöcher und in die Ohren. Ein Kätzchen steckt in Klein-Giselas Nasenloch fest, sie bekommt es nicht mehr heraus. Wir alle, die Besucherkinder und ich, versuchen ihr zu helfen, dabei schieben wir es nur noch tiefer hinein, sie weint in Panik, wir begleiten sie ins Haus. Eine hilfreiche Erwachsene zieht das Kätzchen mit einer Pinzette heraus, alles ist wieder gut. Muttis wortreiche Ermahnungen nehmen wir in Kauf.