LESEPROBE Gegenwind und Schutzhütte

– Märchen, Parabeln, Satiren und andere unglaubliche Geschichten –

Der Prinz und der Vogel

Der Held unseres Märchens war ein Mann unseres Jahrhunderts, der Verantwortung zu tragen und Entscheidungen zu treffen gelernt hatte, dem darüber hinaus sein Beruf Freude machte, der, was noch mehr ist, geachtet, von vielen verehrt und bei vielen beliebt war. Er strahlte die Ruhe und Gelassenheit eines Prinzen aus, hatte das Wissen und Verständnis eines gereiften Mannes und zugleich die Fröhlichkeit und Offenheit eines Jünglings – kurz, wer ihn ansah, musste ihn gerne haben. Er war tatsächlich ein Prinz, einer der wenigen Prinzen unter den Menschen unseres Jahrhunderts.
Aber unser ungekrönter Prinz war nicht glücklich. Wenn er alleine war, verschloss sich seine Miene, seine Gedanken verfinsterten sich, seine Seele wusste nicht ein noch aus.

Und nun beginnt unser Märchen wirklich: Unser Prinz wurde durch einen bösen Zauber in einen finsteren Mann verwandelt, der in einem eisernen Käfig gefangen saß, der verlassen mitten in einem großen Walde stand. Der Mann hatte keinen Schlüssel zu dem Käfig, ja er rüttelte nicht einmal an den Stäben, denn er wusste, dass er aus eigener Kraft nicht hinausgelangen konnte. Nur eine Prinzessin, die ihn trotz seines finsteren Wesens liebte, – so war ihm geweissagt worden – konnte ihn erlösen.

So ging es schon manches Jahr mit dem armen Prinzen.
Eines Tages hüpfte ein bunter Vogel an sein Käfiggitter.
„Ich bin eine verwunschene Prinzessin“, zwitscherte der kleine Vogel, „und bin gekommen, um dich zu erlösen.“
„Woran soll ich das erkennen“, erwiderte der Mann im Käfig, „vielleicht bist du in Wirklichkeit eine Hexe. Bleib draußen, ich könnte dir etwas zuleide tun!“
Da flog der kleine Vogel fort.
Nach sieben Tagen kam er zurück, aber diesmal schimmerte sein Gefieder wie Silber.
„Wenn du mir vertraust“, zwitscherte der kleine Vogel, „kann ich dich erlösen.“
„Woran soll ich das merken“, antwortete der Mann, „du blendest mich mit deinem Schmuck und deinen schönen Worten, aber dein Herz ist vielleicht hart wie das Silber an deinem Gefieder. Bleib draußen, ich könnte dir etwas zuleide tun!“
Da flog der kleine Vogel wieder fort.
Nach sieben Wochen kam er zurück. Diesmal schimmerte sein Gefieder wie eitel Gold. Er flog durch die Gitterstäbe und setzte sich dem Mann in die Hand. Dem verwunschenen Prinzen wollte es ganz warm ums Herz werden, aber der Zauber war stärker, und so konnte er dem kleinen Vogel nicht trauen.
„Flieg fort!“, rief er. „Du siehst doch, dass ich unglücklich bin! Flieg fort!“
Doch das Vögelchen blieb sitzen. Da warf der Mann es zu Boden und trat in seiner Verzweiflung mit dem Fuß auf das Tier. Dann nahm er es auf, langte mit dem Arm durch das Gitter und schleuderte den Vogel unter einen Busch, denn er konnte den traurigen Anblick nicht ertragen.
Aber oh Wunder, ehe die Nacht herum war, kam der kleine Vogel wieder zu sich und flog leise davon. Der verwunschene Prinz aber musste in seinem Käfig bleiben, und wenn er den kleinen Vogel nicht zufällig noch einmal vorbeifliegen sieht und sehr laut ruft, so bleibt er sein Leben lang dort gefangen und kann auch die verwunschene Prinzessin nicht mehr erlösen.

Die Kurve

Meine Temperaturkurve grinst mich an, als wäre sie ein breiter Mund, den man – zickzack – mit dem Küchenmesser in einen dicken Kürbis geschnitten hätte. Mit zackig gekräuselten Lippen grinst sie hämisch; denn sie weiß, ich warte wieder darauf, dass sie den einen Mundwinkel um 0,5 Grad Celsius nach oben zieht, zu einem halben Lächeln, zu einer halben Hoffnung.
Noch sieht meine Kurve nichts sagend aus. Das ist gut so. Denn stiege sie plötzlich um 0,5 Grad Celsius an, so hätte ich meinen Eisprung schon gehabt und es wäre zu spät, wenn ich am nächsten Morgen nach München flöge.

Ich bin in München.
Kein Kuss, keine Zärtlichkeit, keine Berührung, kein vertrautes Gesicht, kein begehrter Körper, keine Erregung, kein Eindringen, keine Ekstase, kein geliebter Mann in meinen Armen. Der Arzt zieht die Spritze auf und injiziert eine milchige Flüssigkeit in meine wenig entspannte Scheide. Von wem kommt der Samen darin? Wie sieht der Vater meines zukünftigen Kindes wohl aus? Nach welchen Kriterien hat der Arzt den Spender ausgesucht? Was mag das für ein Mensch sein? Hätte ich mir ein Kind aus dem Waisenhaus geholt, so hätte ich es vorher ansehen und vielleicht schon ein wenig lieb gewinnen können. Aber hier auf dem gynäkologischen Stuhl in München läuft alles gefühllos und steril ab.
Diese fremden Spermien sollen nun meine Vagina hinaufschwimmen und sich meine Eizelle suchen. Wird sie erlauben, dass ein Fremder eindringt? Eizellen sollen bestimmte Lockstoffe ausströmen. Vielleicht empfangen sie ja auch welche. Wird mein Unterleib wirklich so mechanisch reagieren? Gehört zur Empfängnisbereitschaft nicht auch die Seele? Ist die Frigidität der Frauen nicht oft psychisch bedingt? Vielleicht wird meine kleine Zelle umsonst auf Liebe warten, vielleicht vermisst sie die Botschaft meiner Sexualhormone, meiner Eustress-Hormone, meiner Freudenhormone und weigert sich, weil ich kalt bleibe.
Ich weiß ja nicht einmal, ob ich einen Eisprung hatte oder innerhalb der nächsten Stunden haben werde. Ich stelle mir vor, wie schön es sein könnte – wie meine reife Eizelle während eines Liebesspiels vor lauter Freude aus ihrem Follikel springen und den heran schwimmenden Eroberern entgegenwandern würde. Aber hier und heute? Vielleicht weigert sich meine Eizelle zu springen, obwohl ich die Zeit gut kalkuliert habe. Vielleicht hält sie sich zurück, bis ich ins Flugzeug gestiegen bin, München weit hinter mir gelassen habe und wieder entspannt in der Einsamkeit meiner Wohnung sitze. Aber dann wäre es zu spät. Spermien leben nur wenige Stunden.

Am nächsten Morgen zu Hause messe ich zu gewohnter Stunde meine Temperatur und trage sie routinemäßig in die Kurve ein. Und ich sehe, dass sich ihre leicht gezackte Linie auch diesmal nicht zu dem erhofften halben Lächeln nach oben zieht.