Hexen und Schwarze Schafe
Was ist eine Hexe? Sie lebt allein. Sie ist meistens alt. Sie ist irgendwie verunstaltet. In Grimms Märchen HÄNSEL UND GRETEL lockt sie zwei verirrte Kinder mit schönen Versprechungen in ihr Haus und bewirtet sie auf’s Köstlichste. Aber wie jeder weiß, sind ihre Motive böse, und ihre freundliche Stimme ist nur verstellt. Und so tun zwei verirrte Kinder gut daran, ihr nicht zu trauen, sondern zusammenzuhalten und sich am Ende selbst zu befreien. Heikes Pflegekinder wussten das.
Jeder kennt auch das sprichwörtliche Schwarze Schaf. Es gehört zwar zu einer Gemeinschaft, einer großen Familie, aber es ist auffallend anders als die Verwandten. Darum mögen sie es nicht. Im Extremfall stoßen sie es aus. Ein Schaf ist aber ein Herdentier, und ein Schaf alleine, selbst ein schwarzes, findet sich nicht zurecht. Aus der Bibel kennen wir das Gleichnis vom Guten Hirten, der seine Herde unbeaufsichtigt lässt und keine Anstrengung scheut, um ein einziges verloren gegangenes Schaf zu suchen. An ein Schwarzes Schaf hat er aber dabei wohl nicht gedacht. Um Schwarze Schafe kümmern sich Hexen wie Heike. Von ihr und ihren Pflegekindern handelt dieses Buch.
Wer sich auf den Weg in den Märchenwald macht, dem begegnen erstaunliche Wesen: Kleine ungehorsame Mädchen mit aufreizend rotem Kopfputz, die vom Wolf gefressen werden; Großmütter mit unschuldiger Nachtmütze, die sich als böse Wölfe entpuppen; schwache Väter, die ihre Kinder im Wald aussetzen; schlaue kleine Jungen, die sich mit glänzenden Kieselsteinen den Rückweg zum Elternhaus markieren.
Wer sich in die Welt der Sprichwörter begibt, dem begegnen noch seltsamere Wesen: Grubengräber, die doch nicht selbst hineinfallen; langbeinige Lügner, die immer davonkommen; ihre Gegenspieler, die sich selbst in die Tasche lügen – und noch viele andere, die sich nicht an die Sprichwortregeln halten.
Heike hat sie gesehen in diesen Wäldern und Welten: Ausgestoßene und Eingefangene, Verirrte und Suchende, Verunstaltete und Wunderheiler, Verzauberte und Zauberer, Wahrsager und Feen. Der Märchenwald und die verkehrte Sprichwörterwelt sind gar nicht so weit von uns entfernt, wie die meisten Erwachsenen glauben.
Heike
Der November wälzte seine gräulichen Nebelmassen über die Dächer der vier- und sechsstöckigen Häuser, ließ die Schwaden in die regenschmutzigen breiten Straßen fallen, blies sein Grau ein wenig auseinander und verteilte es in alle Winkel der Stadt. Die letzten trockenen, graubraunen Blätter, die noch an den Bäumen hingen, nahm er dabei gleich mit. Die Menschen stapften verdrossen über das schmutzige Pflaster. Tausende von Schuhsohlen vermengten den Regen mit dem alten Straßenstaub.
Heike hatte es eilig, in die warme Bibliothek zu kommen. Als sie in der Seitenstraße den Mann auf dem Bürgersteig liegen sah, ging sie schnell vorbei. Blitzartig rief sie aus ihrem Gedächtnis das Wichtigste aus dem Erste-Hilfe-Kursus ab: Stabile Seitenlage. Der Mann lag richtig. Falls er bewusstlos war, konnte er nicht ersticken und auch nicht eigenes Erbrochenes einatmen. Er schien sogar bei Bewusstsein zu sein, aber sicher war sie sich nicht. Er hatte ein wenig gezuckt, als habe er einen kleinen epileptischen Anfall, und schien auch etwas Schaum vor dem Mund zu haben. Heike war schon fast an der nächsten Straßenecke angekommen, als sie zögerte. Ihre Schritte verlangsamten sich. In ihrem Kopf begann sich Schublade um Schublade ihres schon recht umfangreichen Gedächtniskastens zu öffnen auf der Suche nach Informationen über Epilepsie, Kälteschock, unterlassene Hilfeleistung. Ihr Gewissen regte sich. Musste man bei einem Anfall nicht dem Patienten einen harten Gegenstand zwischen die Zähne schieben? Hatte sie etwas Geeignetes bei sich? Sollte sie jetzt ihre warme Jacke ausziehen, um den Mann zuzudecken? Schon hatten ihre Füße den Weg zurück zu der Stelle genommen, wo sie den Mann gesehen hatte. Ja, er bewegte sich ein wenig. Sein Gesicht zuckte noch. Aber der Schaum vor dem Mund sah eigentlich mehr wie aufgeblasene Spucke aus.
„Kann ich Ihnen helfen?“ hörte Heike sich sagen.
Jetzt bewegte der Mann einen Arm, richtete den Kopf auf.
„Danke, es geht schon. Ich habe das öfter.“
Etwas schwerfällig erhob er sich. Heike versuchte, ihn zu stützen.
Zwei Polizisten kamen auf ihrer Runde vorbei.
„Na, wieder mal hier?“ sprach einer von ihnen den Mann an.
Während sie ein paar Worte wechselten, nahm der andere Polizist Heike beiseite und sagte etwas leiser, aber für alle gut hörbar:
„Wir kennen den Kandidaten schon. Er legt es drauf an, dass man ihn mit Tatü-Tata ins warme Krankenhaus fährt. Alles nur Schau.“
Damit gingen die Polizisten weiter.
Heike zögerte noch. Wie ein Stadtstreicher sah der Mann eigentlich nicht aus. Er war mittleren Alters; bis auf den neuerlichen Schmutz von der Straße wirkte er ordentlich und sauber gekleidet. Sein Gesicht fand Heike sympathisch und intelligent.
„Kann ich Sie zu einer Tasse Kaffee einladen?“ fragte sie. Das würde weder ihre mageren Einkünfte übersteigen, noch ihn demütigen können.
„Danke, aber nur eine.“
„Kennen Sie sich in dieser Gegend aus, wo man hingehen könnte?“
Ja, er kannte sich aus. Sie fanden bald in der Nähe ein schlichtes Café. Unterwegs wischte er sich, so gut es ging, den Schmutz ab. Er schien weniger befangen, als Heike sich selber fühlte. Bald fragte er sie, warum sie mitten am Tage so viel Freizeit habe. Familie? Kinder? Ach, sie sei Studentin. Was sie denn studiere? Zwei Fächer? Dann wolle sie wohl Lehrerin werden. Und warum?
„Ich bringe gerne anderen etwas bei. Und ich muss studieren, was lernbar ist; ich habe keine spezielle Begabung. Und ich möchte auch Männer als Kollegen haben.“
Warum erzähle ich diesem Mann das alles? Wahrscheinlich, weil ich weiß, ich sehe ihn nie wieder.
„Einen Grund haben Sie vergessen“, riss er sie aus ihren Gedanken.
„ – ? – “
„Ihren Kinderwunsch.“
———
Und ich dachte, ich sei so klug.
An diesem Tag konnte sich Heike nicht mehr auf Bücher konzentrieren. Sie fuhr mit der S-Bahn nach Hause. Wo sich zwei S-Bahnlinien kreuzten, wartete sie auf ihren Anschlusszug, als die frühe Herbst-Abenddämmerung begann. Das gelb gestrichene, kastenförmige kleine Haus, in dem sich die Bahnbeamten wärmten, war auf dem Bahnsteig bald nur noch als vierkantige Fläche zu erkennen. Plötzlich schien aus einer der Seitenkanten ein erleuchteter S-Bahnzug hervorzukommen; scherenschnitthaft fuhr er am Himmel entlang. Fast im gleichen Augenblick entglitt aus der anderen Seite des Häuschens ein zweiter Zug und entschwebte am dämmerigen Himmel in die entgegengesetzte Richtung. Wagen um Wagen schien das gelbliche Viereck hervorzubringen. Die beiden Züge zogen sich auseinander, ihr Schwarz durchbrochen vom gelben Licht der erleuchteten Fenstervierecke, als seien sie zwei Hälften eines riesigen Reißverschlusses. Als solle man dem Himmel hinter die Verkleidung schauen.
Verkleidung, dachte Heike, so tun als ob, schauspielern, eine Rolle spielen, wir alle tun das. Der Mann heute fingierte einen epileptischen Anfall. Ich selber spiele die kinderlos zufriedene Akademikerin. Aber jeder sieht nur dem anderen hinter die Verkleidung, selten einmal sich selbst – vom Himmel ganz zu schweigen.