Ich bin Anna, unverheiratet, 77 Jahre alt. Meine Freundinnen und Bekannten haben gut für ihr Alter vorgesorgt, nur ich nicht. Sie haben einen Partner gefunden, mit dem sie zusammen alt werden wollten. Oder sie haben Kinder in die Welt gesetzt, die für sie sorgen werden. Oder beides. Oder sie haben zurück zur Kirche gefunden, wo sie fleißig beten und sich der Fürsorge der jüngeren Gemeindeglieder erfreuen, die das Alter ehren oder Gutes tun wollen.
Mir muss da ein Instinkt fehlen. Kinder wollte ich so gerne haben, aber nur mit einem liebenden Mann, und der hat sich nicht gefunden. Die Kirche war mir eine Heimat, als ich jung war und mich noch mit der Liebe aus dem Jenseits locken und trösten ließ. Aber die Hoffnung auf Liebe im Diesseits habe ich nie ganz aufgegeben.
Ich war schon fast 70 Jahre alt, als mir meine Schwägerin sagte, meine Vorstellung von der Liebe sei wie die eines Teenagers. Vielleicht stimmt das ja. Ich verliebe mich gerne. Es geschieht ja nur alle 13 bis 20 Jahre. Dann glaube ich immer, wir werden heiraten und glücklich sein und uns lieben bis ans Lebensende. Und wenn sie nicht gestorben sind …
Ich weigere mich, meine Sehnsucht und meine Hoffnungen sterben zu lassen.
Wenn ich keine Sehnsucht mehr spüre, ist meine Seele tot.
Das letzte Mal verliebte ich mich mit 71 Jahren. …..
An diesem ersten Abend versammelte sich die Kleinbusgruppe im Kaminzimmer zum Kennenlernen. Wie es bei solchen Gelegenheiten in England üblich ist, stellten wir uns alle mit Vornamen vor. Ein „Sie“ gibt es ja im Englischen auch nicht. Der neue Herr hieß Andrew. Er wohnte in Ross-on-Wye in Süd-England an der Grenze zu Wales. Ich mochte ihn gleich. Er strahlte etwas Offenes, Vertrauendes und Vertrauen Erweckendes aus. Seinen Namen merkte ich mir leicht, denn er begann ja so wie meiner. Auch seinen Nachnamen erfuhr ich, Thomas, denn er erklärte uns, dass die meisten walisischen Nachnamen aus englischen Vornamen entstanden waren, als die Waliser von den englischen Eroberern zum Annehmen von Nachnamen gezwungen wurden. Als Kind habe er Walisisch gesprochen, erfuhren wir, aber jetzt habe er die Sprache ganz vergessen.
In der ersten Hälfte der Urlaubswoche saßen Andrew und ich meistens hinten im Kleinbus, nur durch den Mittelgang getrennt. Wir schienen öfter wie durch Zufall bei den Besichtigungen nebeneinander herzugehen. Ich erinnere mich an einen Rundgang in einem wunderschönen Parkgelände. „Du scheinst zu wissen, wo es langgeht“, sagte ich. „Nein, überhaupt nicht“, war seine Antwort. Ich fragte mich, ob das wohl auch im übertragenen Sinn für ihn zutraf. Ein anderes Mal waren wir alle im Regen unterwegs gewesen. Im Bus nahm er seine dünne Regenhaut ab, die natürlich auch von innen nass war durch die Ausdünstungen der Haut. Ich schlug vor, dass er sie auskehre zum Trocknen. „You are not just a pretty face“, sagte er – Du hast nicht nur ein hübsches Gesicht. Das ist eine englische Redewendung, aber das lernte ich erst später. Ich nahm es persönlich. Er findet mich schön! jauchzte ich innerlich. Bis dahin hatte mich in meinem langen Leben erst ein Mann schön gefunden, auch er so ein Konservativer. Er hatte mich bald gegen eine andere umgetauscht. Das war vor 25 Jahren gewesen.