LESEPROBE „TÄNTCHEN UND DAS HAUS“ (Antje Arbor, Hrsg.)

Aus Täntchens Tagebuch

Januar 1947: Die Blätter aus einem uralten Poesiealbum von Tante Hedchen (1864) dienen mir dieses Jahr für meine Tagebuchaufzeichnungen. Ein Symbol für unsere Armut! So fange ich das Jahr an in dem kleinen Küchenstübchen, während die Franzosen sich in jedem Raum meines Hauses breit machen. Wird ein Friede, den dieses Jahr uns bringen soll, dem ein Ende machen? Man wagt es nicht zu hoffen, wagt überhaupt nicht mehr, an Besserung zu glauben.
Ein Päckchen mit Mehl von Elschen und mit vielen Briefen empfing mich nach dem Gottesdienst zu Hause. Ich schrieb abends an Elschen und an meinen Patensohn, um ihm für das Anfeuerholz zu danken, das der kleine Kerl für mich gespalten hat.
Abends machte ich Weizenkörner aus, dachte dabei sehr lebhaft an Heidelberg. Es wäre doch besser gewesen, wenn ich damals dorthin gezogen wäre. – Im Dorf gab es allerlei zu kaufen: Fleisch, Brot, Milch, ½ Pfund Salzfische, die ich marinierte und abends zu Kartoffeln aß. Nachmittags holte ich meine Stiefel von Schuster D.. Gegen eine Flasche Wein und 4,80 Mark hat er mir neue Absätze gemacht. Früher kosteten sie 90 Pfennig.
Ich pulte Weizenkörner aus. Im Familienkreise wäre das eine ganz nette Beschäftigung, aber so ist es langweilig. – Mittags und nachmittags unterrichtete ich nun wieder, z. T. bei Kerzenschein, weil das elektrische Licht mal wieder ausging. Da sind immer die elektrischen Öfen der Franzosen dran schuld. – Von Trude kam ein Päckchen Knäckebrot und ein rührender Brief voll tiefem Mitgefühl für meine jetzige Lage. 17 Grad Kälte sollen letzte Nacht gewesen sein. Im Hause habe ich es ganz schön warm, huste aber doch schrecklich. …..
Madame schickte mir erst das Mädchen in meine Stunde, dann kam sie selber, ich sollte ihr ein großes Tischtuch vom Boden holen, weil sie Besuch hat heute Abend. Ich habe es nicht getan, sie hätte Vormittag daran denken können. Beim Unterrichten lasse ich mich nicht stören. Bei der sich daran anschließenden Auseinandersetzung ärgerte ich mich so, daß mein Herz richtig flatterte und ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Diese Gabels sollten sich mal in Indo-China (heute Vietnam) umsehen, wo jetzt viele Franzosen von hier hinkommen.
Ich schickte 2 Päckchen an Elschen ab mit einer (halbierten) Tischdecke, die mir Tante Hedchen mal gearbeitet hat, mit Nähzeug und verschiedenem Lesestoff. Während ich packte, kam ein Päckchen von ihr an mit einem erstaunlich dicken Stück Butter und einer Tüte Grieß. Frau Sp. erzählte mir heute, daß sie all ihren Schmuck gegen Nahrungsmittel verkaufen. Wer keine Hülfsquellen hat, müßte ja auch schon verhungert sein. …..

August 1947: Ich kochte von den weniger guten Mirabellen eine schöne süße Marmelade ohne Zucker, erntete meine Schalotten (kleine Zwiebeln), die bei der Hitze einen Monat früher abgestorben aber nicht schlechter sind als sonst. Das Licht beim Herd ist jetzt mein einziges. Die Lampe ist bei Harder (zur Reparatur) und das Oberlicht ist auch kaputt. So kann ich wenig lesen.
Früher fing um diese Zeit die Schule nach den großen Ferien wieder an, und wir feierten am 11. August den Verfassungstag. Daran denkt heute kein Mensch mehr.
Besorgungen. Es gab ein Pfund Salzheringe, die ich sauer einlegte; eine scheußliche Schmiererei. Frl. U. hatte Stunde, stellte sich so dumm an, daß ich wiederholt an die 3 Eier und die Tüte Haferflocken denken mußte, die sie mitgebracht hatte, um nicht aus der Haut zu fahren.
Es gibt immer so viel im Dorf zu erledigen, das nimmt den halben Morgen in Anspruch. Die andre Hälfte geht mit dem Kochen drauf, das ich jetzt täglich tun muß, weil bei der Hitze das Essen auch im Keller nicht aufzuheben ist. Die Franzosen lassen alles einfach im Speiseschrank liegen, nachher findet man es dann auf dem Komposthaufen wieder.
(Sonntag): Fuchs predigte über das Leben in der zukünftigen Welt. Da kann ich immer nicht recht mit, schon wegen der unvorstellbaren Masse der Teilnehmer.
Heute berichtet die Zeitung von dem Übergang der beiden Indischen Staaten Hindustan und Pakistan in den Stand der Dominien. Die ersten englischen Truppen sind schon abgereist. Ein großer Einschnitt in Englands Geschichte. …..

September 1947: Wenig Lust zum Leben, besonders wenig zum Kochen. So ganz ohne Fett und Zucker schmeckt doch alles gräulich. Ich helfe mir meist mit Pellkartoffeln und rohen Tomaten mit Salz.
Eben war Gottesdienst für die Gefangenen. Die schönen Lieder und Sprüche haben mich etwas aufgerichtet, ich war so bedrückt. – Morgens, wenn sich etwas Wasser angesammelt hat, nehmen natürlich alle Leute Vorrat, dann ist es wieder zu Ende. Sonst arbeitete ich meist am Backobst. – Die Kartoffeln und Mohrrüben, die ich ausmachte, kamen vollkommen welk aus dem Boden; das hatte ich noch nicht erlebt. Den Mais picken die Vögel weg, sobald er aus seiner Hülle kommt. Hier ist es so: Die Blumen stiehlt Madame, das Gemüse die Mäuse, die Früchte die Vögel, die Arbeit bleibt für mich. Suum cuique (Jedem das Seine).
Die schwarz-weiß-rote Fahne, die ich immer noch aufgehoben hatte, zerwirkte ich jetzt. Mit schwarz besserte ich meine Kleiderschürze aus, weiß gibt 2 Beutel für Backobst, rot bekommt Helene mit passender Borte für eine Kinderschürze. Die Auflösung der Fahne ging mir doch etwas nahe. Als sie noch wehte, hatten wir es gut. (Kaiserzeit) …..

Mai 1952: Jetzt kommen die Außenminister in Bonn* zusammen, da wollen sie die letzte Hand an den Generalvertrag legen. Das Echo aus dem Osten klingt sehr grollend, was man verstehen kann.
26.: Heute soll der Generalvertrag unterzeichnet sein. Niemand kennt ihn richtig, und man ist sehr mißtrauisch dagegen. Eine Herausforderung Rußlands ist er auf jeden Fall, vor allem die Bestimmung, daß das künftige Gesamtdeutschland daran gebunden sein soll. – …..

Juni 1952: Der Garten ist prächtig in seiner Blütenfülle, auch hat Madame das Stehlen aufgegeben. Mit den Augen zu genießen, gönne ich ihr.
Ich las einen sehr klugen Artikel von Hans Zehrer: „Das abendländische Volk.“ Die Deutschen sind in den 75 Jahren ihres Nationalstaates dreimal elend gescheitert. Groß im geschichtlichen Sinne sind sie nur als Kernvolk des Abendlandes wie im Mittelalter. Also „Europa“!