LESEPROBE Täntchen und der Krieg

Aus Täntchens Tagebuch 1933

Täntchen litt an einer angeborenen Hüftgelenksverrenkung (Luxation), die nicht erfolgreich operiert werden konnte. Im Februar 1933 wurde sie 54 Jahre alt. Ihre Familie bestand zum einen aus ihrer Mutter und zum anderen aus der Familie ihrer Schwester. Ihre 78-jährige Mutter, meine Urgroßmutter, wohnte in Berlin-Friedenau, weit genug entfernt von dem eigenständigen Fräulein Doktor, seiner Vierzimmerwohnung in Berlin-Lichterfelde und seinem nahe gelegenen Tätigkeitsfeld, dem Mädchengymnasium Goetheschule. Täntchens verwitwete Schwester Trude, meine Großmutter, reiste des öfteren aus Rostock nach Berlin an, um Mutter und Schwester zu besuchen. Besonders innig verbunden fühlte sich Täntchen den Kindern ihrer Schwester: Der Sohn Frieder mit Ehefrau Frauke hatte eine Arztpraxis in Pommern. Die sehr viel jüngere Tochter Elsbeth lebte mit ihrem Ehemann Erich auf seinem Forstamt in Ostpreußen. Die Jüngste, Helene, lebte mit 20 Jahren noch bei Mutter Trude in Rostock. Sie sollte später meine Mutter werden.

Januar 1933: Das Jahr 1933 begann nicht gut. Anstatt zu Silvester und Neujahr nach Pommern zu reisen, lag ich mit Ziegenpeter (Mumps) und Bronchialkatarrh zu Bett. Seit dem 23. gehe ich wieder zur Schule. Es wurde mir schwer, aber ich habe mich gewöhnt, zumal mir Minna alle Arbeit im Hause abnimmt. Der Direktor ist wieder beurlaubt wegen Krankheit; Fräulein Schlegel regiert sanft und verständig. Ich habe in meinen Stunden jetzt viel nachzuholen, aber die IV b mußten wir am 30. auf eine Woche schließen, weil 27 von 48 Kindern wegen Grippe und Erkältungen fehlten.
Im politischen Leben wurde den ganzen Monat hindurch immer vertagt und verzögert, wie man es schon gewöhnt ist. Jetzt zum Schluß (am 30.) kam die große Überraschung: Das Ministerium Schleicher dankte ab, und Hitler wurde Reichskanzler, mit Papen (Franz von Papen, 1932 Reichskanzler, 1933-1934 Vizekanzler) und Hugenberg (1928-1933 Vorsitzender der Deutschnationalen Volkspartei) in seinem Ministerium. Nun soll „der Führer“ mal zeigen, was er kann.

Februar 1933: Was diesem Monat seinen Charakter verlieh, waren die Anfänge der nationalsozialistischen Regierung. Von einer Einschränkung (des Reichskanzlers Hitler) durch Deutsch Nationale und Stahlhelm (Frontkämpferbund) merkt man nichts. Zuerst wurden Reichstag und Landtag, auch die Stadtparlamente aufgelöst und Neuwahlen für den 5. und 12. März ausgeschrieben. Die Wahlpropaganda betreibt die Regierung mit allen Gewaltmitteln. Zeitungsverbote hageln nur so. Einmal war die gesamte Zentrumspresse verboten, was allerdings gleich wieder rückgängig gemacht werden mußte. An die leitenden Stellen im Reich und in Preußen sind nun überall Nazis und Deutsch Nationale getreten, großenteils Leute ohne Vorbildung für ihr Amt; also wiederholt sich die Sache mit den Parteibuchbeamten, über die immer solche Empörung herrschte, nur jetzt mit umgekehrtem Vorzeichen.

Solche kritischen und ironischen Passagen in den Tagebüchern werden nun im Text immer besonders hervorgehoben.

Am schädlichsten erscheint es mir, daß die Regierung die S.P.D. in den Bund mit den Kommunisten förmlich hineintreibt, – was Brüning immer so geschickt verhindert hat. Die Gefahr, die vom Kommunismus droht, zeigte sich sehr bedrohlich bei der Durchsuchung des Karl Liebknecht-Hauses, wo man weitgehende Vorbereitungen für eine Revolution entdeckte. Am Abend des 27. wurde das Reichstagsgebäude von einem holländischen Kommunisten angezündet und brannte großenteils aus.

Reichstagsbrand, die Zerstörung des Reichstagsgebäudes in Berlin durch Brandstiftung am 27.2.1933. Der Reichstagsbrand wurde von Hitler benutzt, um die wichtigsten Grundrechte außer Kraft zu setzen. Im Reichstagsbrandprozeß (Sept. bis Dez. 1933) wurde der niederländische Kommunist van der Lubbe zum Tode verurteilt; Torgler, Dimitrow und andere Kommunisten wurden freigesprochen. Indizien sprechen für die Urheberschaft einer nationalsozialistischen Terrorgruppe. Restlose Aufklärung ist nicht gelungen.
DER BROCKHAUS 1961/62
Die nationalsozialistische These eines Komplotts der KPD wurde mit dem Freispruch G. M. Dimitrows und E. Torglers durch das Reichsgericht praktisch widerlegt. Brandstiftung durch die SA mit Wissen Görings ist nicht bewiesen. Die Alleintäterschaft des zum Tode verurteilten Niederländers Marinus van der Lubbe gilt heute – angesichts der Quellenlage – als weitgehend gesichert.
DER BROCKHAUS 1991/92

Viele kommunistische Abgeordnete wurden festgenommen. Die Regierung kündigt weitere Maßnahmen „zum Schutz des deutschen Volkes“ an, – wahrscheinlich eine Art Ausnahmezustand. Wir sind mitten im Bürgerkrieg. Was mag noch kommen?
In meinem Privatleben war dieser Monat auch nicht erfreulich. Nachdem ich nur 3 Wochen wieder unterrichtet hatte, bekam ich Grippe. Sie setzte scharf ein, hat sich aber nach mehrmaliger Schwitzkur bei 5-tägigem Bettliegen ausgetobt. Dr. Grunwald behandelt meine dauernde Erkältung energisch mit Jod, Mutosan und Anastilspritzen; sie ist sehr gebessert. Mutter ließ ich während der Grippe gar nicht herkommen, wegen der Ansteckungsgefahr, hatte auch kein Verlangen nach Besuchen. Mein Geburtstag verlief sehr ruhig, ohne die sonst übliche Hetzerei: Morgens beglückwünschte mich Minchen, mittags kam Fräulein von Gaertner, die an dem selben politischen Katzenjammer leidet wie ich, am Nachmittag trank noch eine Kollegin bei mir Tee, und abends waren Mutter und Trude ganz gemütlich hier. Eine kleine Kaffeegesellschaft fand am Sonnabend statt.
Unser Schuldirektor starb. Zu seinem schweren Herz- und Nierenleiden war eine Lungenentzündung hinzugetreten. Ich bin gespannt, wer nun Direktor der Goetheschule wird. Frl. Schlegel werden sie ja den Posten nicht übertragen, was so selbstverständlich wäre, nachdem sie die Schule so lange mustergültig geleitet hat.