LESEPROBE Täntchen und die Weimarer Republik

Einleitung

Vor einigen Jahren stellte ich meinen Lesern mit TÄNTCHEN UND DER KRIEG die Tagebücher meiner Großtante „Täntchen“ aus den Jahren 1933 bis 1946 vor. Später, bei der Lektüre von Lion Feuchtwangers sehr realistischem Roman ERFOLG, der im München der Jahre 1921 bis 1924 spielt, fragte ich mich, wie wohl Täntchen in Berlin jene Zeit der Inflation und zunehmenden nationalsozialistischen Aggression erlebt haben mochte.
Vieles, was ich beim Lesen von Täntchens Aufzeichnungen aus der Hitlerzeit nicht verstanden hatte, begann mir beim Lesen ihrer Notizen aus der Weimarer Republik im Nachhinein deutlicher zu werden. Zum Beispiel können wir die Entwicklung des linken und rechten Extremismus, bei dem der rechte schließlich siegte, in den Tagebüchern dieser Zeit mitverfolgen. …..

1918: Meine damals fast 38 Jahre alte Großtante „Täntchen“ wohnt noch bei ihren Eltern in Berlin, Bamberger Straße. …..

ELISABETH-LYZEUM
(April 1918 bis April 1922)

[Das Elisabeth-Lyzeum liegt bzw. lag in der Drakestraße in Berlin-Lichterfelde.]
11.4.18: Morgens zum Schulbeginn kleine Feier im Wäldchen, bei der ich vorgestellt wurde. Dann machte ich mich mit meiner 3. Klasse bekannt [entspricht der heutigen 8. Klasse]. Die 13 Mädel machen einen vertrauenerweckenden Eindruck.
12.4.18: Am ersten Schultag gleich 5 Stunden hintereinander, dazwischen Aufsicht im Wäldchen. Trotzdem war ich nicht sehr ermüdet. Ich lernte alle meine Klassen (I, II und IV neu) kennen. [Das Lyzeum schließt mit der 1. Klasse ab, die unserer jetzigen 10. Klasse entspricht. Die 2. Klasse entspricht also der heutigen 9. Klasse, usw.]
13.4.18 (Sa): Um 1 Uhr nach Schluß des Unterrichts Siegesfeier für den Fall von Armentières.
14.4.18 (So): Ich las bei Mutter die Vossischen Zeitungen seit Mittwoch nach, die mir nach der „Deutschen Zeitung“ bei Tante Busse besonders gut erschienen. Dann hatte ich zu flicken und meine Schlafstube auf Tante Hedchens Einzug vorzubereiten.
15.4.18: Freier Tag wegen Armentières.
16.4.18: Eifriges Werben für die Kriegsanleihe in der Schule.
17.4.18: 30.300 M. hat die Schule für Kriegsanleihe gezeichnet. Zum Lohn wird Freitag ein Ausflug gemacht. …..

21.4.18: Tante und ich gingen um 11 Uhr, eine 4 Zimmerwohnung in der Drakestraße ansehen. Die Zeitung des Vorabends hatte uns diese neue Hoffnung eröffnet. Hübsche passende Räume, nur entsetzlich eingewohnt. Doch will die sehr angenehme Wirtin 2 Zimmer machen und manches ausbessern lassen.
22.4.18: Ich tat also den wichtigen Schritt und unterschrieb den Mietsvertrag. Für 1150 M. [offenbar pro Vierteljahr] bekomme ich 3 große und 1 kleines Zimmer, Balkon, Veranda, Gartenland. In vieler Beziehung sind meine Wünsche voll erfüllt. Leider ist kein elektrisches Licht, sondern nur Gas im Hause.
23.4.18: Hauptmann Freiherr v. Richthofen* ist gefallen nach mehr als 80 Luftsiegen. Ich bin tief betrübt.
24.4.18: Mutter gratulierte mir zur Wohnung. Wenn ich nur erst ein leidliches Mädchen hätte.
27.4.18 (Sa): Um 4 Uhr fuhr ich mit meiner Wirtin, Frau Zeitz, nach Berlin, wo wir bei Meißner in der Alten Jakobstraße Tapeten aussuchten. Da wir so hübsche fanden, entschlossen wir uns, auch das Eßzimmer noch auf gemeinsame Kosten machen zu lassen.
29.4.18: Mutter und mir gelang es, in den Deutschen Werkstätten den gewählten Sofastoff ohne Bezugschein zu bekommen, nachdem die Behörden uns 3 Wochen lang damit chicaniert haben. Nachmittags gingen wir ins Hospiz, wo Tante Hedchens Buffet für mich poliert wurde. Ich habe heute frei, wie alle Schulleute, wegen der großen Kriegsanleihe.
30.4.18: Trude hat mir ein nettes Päckchen mit Gartenbuch, Samen, Butter und Wurst geschickt und einen langen Brief.